Ein wenig verwirrt ist allY schon, als sie S’ s Büro geräumt
vorfindet; keine Akten, die zu bearbeiten sind; keine aufgeschlagenen
Gesetzestexte; einfach gar nichts, das auf Arbeit schließen lässt. Wo
ist S ?
Als S die nächsten Tage weder im Büro erscheint noch auf
Anrufe von allY reagiert, bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich selbst um
die zu erledigenden Arbeiten zu kümmern: Mandantengespräche, Gerichtstermine,
Schriftsätze etc.
Wo ist S, fragt sich allY. Kann sein, dass sie ihn in der
letzten Zeit ein wenig genervt haben könnte. Aber muss er deswegen gleich
verschwinden ? Und vor allem, ohne eine Nachricht zu hinterlassen ?
Auch M, B und W können sich keinen Reim darauf machen: ein
bodenständiger Mensch wie S, einfach weg ? Viel Zeit über das Verschwinden von
S nachzudenken, haben die drei aber nicht. Der Schock, nämlich die Übernahme
der Kanzlei durch ihre Frauen (da nach dem Weggang von S von erfolgreicher
juristischer Tätigkeit keine Rede mehr war), muss erst mal verdaut werden ...
Es vergeht ein Monat; ein Monat der durchgearbeiteten Nächte
...
Und endlich eine Nachricht von S: Eine Postkarte aus Quebec
!
Hi ! Ich gönne mir eine Kreativpause. Rechne also in
der nächsten Zeit nicht mit mir. Ein schlechtes Gewissen darüber, dass die
ganze Kanzleiarbeit an Dir hängen bleibt, habe ich keineswegs; denn jetzt hast
Du wirklich echte Gründe, um zu jammern ... S.
Kreativpause ? Was hat juristische Tätigkeit mit Kreativität
zu tun ? Nein, da muss etwas anderes dahinter stecken, denkt sich allY. Der
einzige Grund, warum ein Mann von heute auf morgen seinen Verstand verliert und
alles Stehen und Liegen lässt, kann nur eine Frau sein. Daraufhin lässt sie
vorsorglich das Kanzleikonto für S sperren.
Tatsächlich: S wollte eigentlich nur zwei Wochen
ausspannen, Energie tanken und sich von allY ‚erholen’. Doch als er am
Flughafen ankam und sich nach Last Minute-Reisen erkundigen wollte, stieß er
mit Frau C zusammen, die ihn mit ihrem Charme vom ersten Augenblick an
faszinierte. Er folgte ihr wie hypnotisiert, buchte sich - wie Frau C - einen
Flug nach Quebec und das Abenteuer begann ...
Die Monate ziehen vorüber, die Mandanten leider auch ...
allY schafft es nur mühevoll, die Kanzlei alleine aufrecht
zu erhalten. Obwohl sie sich auf Familienrecht spezialisiert und ihre Sache
wider Erwarten auch richtig gut macht, decken die Einnahmen die Ausgaben bei
weitem nicht. Es liegt in der Natur der Sache, dass familienrechtliche Fälle
nicht viel Geld einbringen. Also entschließt sie sich, einen neuen Anwalt in
die Kanzlei aufzunehmen, der lukrativere Fälle bearbeiten soll und bereits
Berufserfahrung hat.
Als erstes denkt sie an W. Doch er züchtet lieber
Weinbergschnecken und widmet sich lieber dem Kochen als wieder in den Beruf
eines Juristen zurückzukehren. Schließlich muss er auch nicht arbeiten, da
Frau M mit B und T die ehemalige Kanzlei R2DO erfolgreich führt. Auch M und B
lehnen mit folgender Begründung ab: Bei erfolgreichen Ehefrauen, die genug Geld
nach Hause brächten, habe ein Mann das Recht, sein Leben in vollen Zügen zu
genießen. B versucht sich daher als Promi-Radfahrer und trainiert hart, um sich
seinen Traum, eines Tages bei der Tour de France mitzumachen, zu erfüllen; ja
und M, er studiert seit neuestem Philosophie, gönnt sich jeden zweiten Tag eine
neue Krawatte und telefoniert die meiste Zeit. Nebenbei betreiben B und M die
online-dating-GmbH ‚everybody need somebody’, deren einzige Gesellschafter
sie sind. Im Gesellschaftsvertrag, das von W ausgearbeitet wurde, ist ausdrücklich
geregelt, dass bei Aufnahme von allY in die Kundenliste die Gesellschaft mit
sofortiger Wirkung aufzulösen ist.
Die wenigen Bewerber, die sich auf die ausgeschriebene
Stelle bei YO bewerben, überzeugen allY nicht. Schließlich muss sie auch in
menschlicher Hinsicht mit ihrem neuen Kollegen auskommen; doch die Bewerber, so
gute Juristen sie auch sein mögen, haben entweder keinen Humor oder haben keine
künstlerische Ader.
Im Grunde hofft sie auf eine Rückkehr von S. Es ist
unfassbar, dass er einfach verschwunden ist und sich seit der Postkarte aus
Quebec nicht mehr gemeldet hat. Nun, schließlich ist auch S nur ein Mann und Männer
enttäuschen früher oder später. Das muss in den Genen liegen und kann
folglich einem Mann nicht zum Vorwurf gemacht werden.
Nach weiteren Wochen, erkennt allY, dass ihr nichts anderes
übrig bleibt als die Kanzlei YO aufzugeben und sich neue, kleinere Büroräume
zu suchen. Ganz aufhören will sie nicht; kann sie auch nicht, da von einem
reichen Ehemann noch keine Spur ...
Ein Jahr ist vergangen, seit S weg ist.
Der letzte Abend in der Kanzlei YO ...
AllY veranstaltet eine kleine Abschiedsfeier, zu der sie B,
M, W mit ihren Frauen eingeladen hat. Es wird über alte Zeiten geredet und über
die Zukunft philosophiert. Alle sind sich einig darüber, dass allY niemals S
aus R2DO hätte abwerben dürfen. Alles wäre anders gekommen, wenn sie bei R2DO
eingestiegen wäre. Vielleicht wäre sie jetzt auch nicht mehr allein, auch wenn
eine relativ geringe Wahrscheinlichkeit dahingehend besteht ...
Und plötzlich erscheint S an der Tür, mit Frau C im Gepäck.
Alle sind überrascht; B überhäuft S mit Fragen, so dass er mit seinen
Antworten hinter her hinkt. Er habe sich im letzten Jahr eine Auszeit gegönnt,
die länger ausgefallen sei, als ursprünglich geplant; des weiteren habe er
französisch gelernt und kenne fast jeden Fleck in Canada. Er sei so beschäftigt
gewesen damit, das Leben in vollen Zügen zu genießen, dass er gar nicht dazu
gekommen sei, sich zu melden. Und das im Zeitalter der e-mails, denkt sich allY.
Der Grund dürfte wohl Frau C gewesen sein ...
Welche Rolle spielt Frau C im Leben von S ? Wird YO ein
revival erleben ? Oder wird allY ihren Weg alleine gehen ?
Über die
Decisions of the Week:
Diese Geschichtensammlung ist
während meiner Promotion an der
Uni Bayreuth entstanden und
erzählt die Geschichte der
Kanzleien R2DO und YO.